Das Leben ist wunderschön
Ich wanderte seit Tagen liebesvollen Herzens in Richtung Süden nach Czernowitz als Begleiter eines wunderba
ren Menschen, der dort seinen geliebten Bruder zu besuchen auf dem Wege war, den er in Folge unseres Schick
sales seit Jahren nicht gesehen hatte.
Als wir eines Tages schon stundenlang gegangen waren, hielten wir auf einem etwas höher aufragenden Hügel
fröhlich inne, schenkten einander einen Blick der Liebe und schauten dann das wunderschöne Land um uns her
um in reicher, üppiger Fülle des heißen kontinentalen Sommers dort liegen. Wie ein irdisches Paradies glänzte
das Land vor uns, und grenzenlos schön strahlte die blaue Weite des hohen Himmels darüber, von freundlichen,
sanften Haufenwolken gelinde durchfahren.
Glücklich wanderten wir nach dieser frohen Beschau weiter und stiegen gemächlich den Hügel hinab. Auf einem
prächtigen Busche rechts neben mir zwitscherte lieblich ein Vogel. Tief bedeutsam blühten zahlreiche Blumen auf
einer Wiese in vollendeter Schönheit. Sanft strich UND ohne Zufall ein warmer Wind über die Gräser und Sträu
cher und streichelte wie von sanfter Hand des Himmels unseren Ort einschließlich unser. Alles war wunderschön
und mit herrlicher Bedeutungstiefe.
In der Ferne vor uns gewahrte ich die Schemen eines Dorfes, dem wir allmählich näher kamen. Unsagbar innig war es in eine Aue eines kleinen Flusses gebaut, der in vertraulichen Biegungen mäanderte und in lieblicher Anmut das stetige Wechselspiel der vergänglichen Gestalten zärtlich speisend durchfloss. Eine Nebenstrecke der Eisenbahn durchquerte das Dorf, das abseits großer Straßen lag. Kurz vor dem Dorfe hielten wir abermals inne und schauten. Ich fühlte deutlich, dass -wie überall auf der Erde- in nur wenigen Menschen hier Frieden war, und in den meisten nur notdürftig verdeckte Furcht, fluchtartige Gleichgültigkeit und unglückliche ängstegefolgschaft, obwohl ebenso die Liebe in ihnen anwesend war, doch von so vielem Widersinn dornengekrönt, dass kein Friede war. Der dinglich manifeste Krieg war räumlich fern und dennoch undinglich innerlich hier; die Front lag zwar viele hunderte Kilome ter weiter östlich, aber der Krieg war hier bereits durchgezogen, und die hiesige Eisenbahnstrecke stand zu dieser Zeit auch in seinem Dienste. Ich gedachte des Krieges und ließ liebeszweifelnde Gedanken an sein Elend aufkommen; DAS war ein Fehler, denn die Schau der Schönheit der Schöpfung schwand sofort! Hadernd fragte ich in mir: ”O weißt Du, warum um alles die Menschen solches tun? Um ihren öden eigenbrötlerischen gottlosen Welttraum nur zu retten vor dem Erwachen im Himmel. Kann aber ein Traum -einerlei, welcher- so schön sein, dass er den Bruder mit selbem oder ähnlichem Trau me dem Tode achtlos preisgibt? So schön ist doch in Wahrheit alles hier, und eine für alle gegebene und reichende Fülle wartet geduldig darauf, friedlich entdeckt zu werden. Aber die meisten Menschen schauen nicht die Wahrheit, sondern sehen allein ihren aus dem lichten Ganzen herausgerissenen dämmerigen Traum, und wenn sie dann noch angstverstockten Herzens sind, sinnen sie unablässig auf Angriff, Krieg und Rache.” Dieser Schatten des Elendes überflog mein Gemüt. Aber mein Freund, dieser wunderbare Mensch, bemerkte dies und blickte mich so an, dass die tiefe Gewissheit der Liebe in seinem Blicke mir wie ein WORT sagte, dass sie, die Liebe von keinem Elende der Welt zu betreffen IST, und so verflog der Schatten rasch wieder. Darob dankbar gebar nun auch ich einen liebevollen Blick, den ich ihm lächelnd wiederschenkte. Er sprach: ”Blicke nicht nach dem Elende, sonst beginnst Du, an es zu glauben. Gott gibt und schaut kein Elend; dies gibt und sieht nur die Welt, die den Vater leugnet. Schaue die Schön heit, Freund!” Ich schaute nun wieder, und der Zweifel war überwunden. Glücklich betrat ich nun mit ihm das Dorf. Ich erahnte, dass ich hier etwas Bedeutsames zu gewähren hatte. Genau in diesem Nu sprach mein Freund: ”Du wirst hier bedeutsamem Zusammenhange zustimmen lernen, Lieber! Sei aber ohne Furcht.” Schon oft hatte mich die begleitende Nachfolge seiner auf unserem Wege in wertvolle Einblicke in DIE LIEBE und den Glauben gebracht, und so nahm ich seine Vorhersage ohne Widerwillen und ohne Nachfrage- rei hin, die er mir ohnehin nicht beantwortet hätte, wie ich aus Erfahrung wusste, als er nämlich in ähnlicher Lage schwieg, um nicht voreilig das Lehrende des Geschehens durch vorzeitige Erörterung in seiner Wirkung zu schmä lern. Ich war indessen dennoch gespannt, in welcher Gestaltung diese Lehre sich mir zeigen werde. Wir gingen durch das Dorf. Dingliche Kriegszerstörungen waren keine zu sehen; stattdessen schaute ich überall die Gemütlichkeit eines Dorfes auf fruchtbarem Lande. Vor einem hübschen, wenngleich baufälligem Hause saß unter einer prächtigen Linde lieblich ein alter Mann, der eine Pfeife rauchte und uns misstrauisch beäugte. Wir lächelten ihm freundlich zu und sprachen mit Augen und Lidern nickend: ”Dzien dobry!” Da heiterte sich seine Miene auf darob dankbar gebar nun auch er einen freundlichen Gruß, den er uns lächelnd wiederschenkte: ”Dzien dobry!” Ich sah noch im Weitergehen, dass er sich daraufhin umdrehte und etwas Freundliches zu jemandem in seinem Hause sprach, dessen ich sofort wusste, dass er sich über eine solche eher seltene Freundlichkeitsäußerung sehr freute. Wir schritten weiter und gelangten zu’m Kirchlein des Dorfes, das an einem Weiher mit einigen wunderschönen Bäumen stand. Unter einem Dachgebälkvorsprung hatten Schwalben ihr Nest gebaut, und nun flogen die Eltern abwechselnd und unermüdlich dahin, um erbeutete Würmer den beiden Jungen in den aufgesperrten Schnabel zu drücken. Behutsame Hege des Nachwuchses, der wunderbare Beginn der im fleischlichen Erdendasein gelebten Liebe. Vor der hölzernen Türe eines Nachbarhauses lag ein gutmütiger Hund schläfrig im Schatten und blinzelte uns gelegentlich sorglos zu. Das Innere des Kirchleins, das wir nun betraten, war schlicht und einfach und duftete nach seinen alten Holzbänken. Ein heiliger Friede aber schwebte hier. Zwei alte Frauen knieten da und dort auf zwei Bänken und beteten wohl gewohnheitsmäßig, aber dennoch andächtig. Wir ließen uns nieder und versenkten uns dankend in DIE SELIGKEIT DER LIEBE. Lange saßen wir so betend da, bis ich empfand, dass eine nach weltlichem Maßstabe schwere Zusammenkunft uns bevorstand, und ich ahnte, wohin ich ihn begleitend gehen sollte, um Gewährung zu lernen, die mir hier wiederum in Anteilen zu lernen ange boten wurde, und dafür ich wohl hergekommen war. Auf dem Wege dorthin begegneten wir sechs deutschen Soldaten mit einem Offizier im Range eines Leutnants. Sie gehörten der Bahnhofsbewachung an und kannten sicherlich jeden Bewohner des Dorfes. Sie kamen uns, ihnen Un bekannten, direkt entgegen; einige von ihnen blickten teilnahmslos drein, einer mürrisch, aber zweie blickten offen und sympathisch, darunter der Offizier. Als wir einander fast trafen, sprach er uns routinemäßig und nicht un freundlich mit: ”Heil Hitler!” an und sagte dann irgendwas auf schlechtem Polnisch, das ich nicht eindeutig verstand. Mein Freund aber antwortete warmherzig auf Deutsch: ”Möge Heil mit ihm und auch mit Ihnen sein!” Der Leutnant stutzte, weil er den Freund wegen der hochdeutschen Aussprache als Deutschen ansah, was er ja nicht erwartet hatte, wie seine polnische Anrede an uns bewies. Darüber hinaus stutzte er aber wegen der Formulierung der Grußerwiderung und fragte interessiert und mit Festigkeit, jedoch nicht barsch oder gar böse: ”Wieso? IST daran vielleicht etwas zu bezweifeln?” Der Freund fragte freundlich lächelnd zurück: ”Sollten wir daran etwas bezwei feln?” Da lächelte auch der Leutnant und sprach: ”Nein, natürlich nicht. Wohin kämen wir und wo würden wir en den, wenn kein Heil mit ihm und uns wäre?” Wir tauschten ein kleines, freies und wohlwollendes Lachen aus, das sogar drei Soldaten zu’m Mitschmunzeln bewog. Er fuhr fort: ”Sie sind also Deutsche?” ”Ja.” ”Volksdeutsche oder Reichsdeutsche?” ”Beides.” ”Und dann sind Sie als Zivilisten zu Fuß in dieser Gegend? Die Ausweise, bitte!” Diese zu verlangen war kein Anzeichen von Misstrauen oder Argwohn, sondern Routine und sogar seine Pflicht. Wir reichten lächelnd ihm Pässe und Reiseerlaubnis nach Czernowitz, den und die er genau besah. Dann gab er sie uns zurück und fragte: ”In Ihrem Alter sind Sie doch wehrfähig. Warum sind sie nicht bei der Wehrmacht?” Mein Freund sagte sanft: ”Warum? Um keinen Menschen zu töten oder auch nur zu verletzen.” Dabei blickte er ihm so warmsinnig und tief in die Augen, dass der Leutnant erst erstaunte und dann seinen Blick zu’r Seite lenkte, wie, um nicht erkannt zu werden. Er hatte etwas gesehen, dem er meinte, nicht standhalten zu können, so dass sich Furcht beimischte; andererseits fand er es UNWIDERSTEHLICH, was er da gesehen hatte, so dass er nun auf andere Weise interessiert eine Annäherung versuchte: ”Das klingt ja so, als ob man das wählen könne, einberufen zu werden oder nicht; es besteht doch Wehrpflicht!” ”Es gibt überall liebevolle Menschen, auch zu Zeiten des Krieges. JEDER KANN WÄHLEN, ein solcher Mensch zu sein. Und solche Menschen erkennen einander immer, und kein Solcher schickt seinen Nächsten in DIESEN oder einen anderen Krieg, obwohl er selbst vielleicht hineingeschickt wird. Aber seine Wahl bedeutet auch dann den HÖCHSTEN SEGEN für ihn, der mehr bedeutet als jeder Ausweis oder jeder Frei schein gilt, auch wenn er verwundet wird oder gar stirbt.” Der Leutnant wusste nicht recht, ob er bei Sinnen sei, und fast erschrak er ob des nahezu gesungenen feierlichen Tones in diesen wahren Worten. Wieder trafen sich ihre Blik ke, und wiederum erkannte er etwas, nämlich die tiefe Freude der Gewissheit der Liebe, und wieder lenkte er den seinen dann zu’r Seite, weil noch vieles in ihm allein sein wollte. Dann sprach er noch, ablenkend: ”Und Sie reisen nun zu Fuß nach Czernowitz? Warum nehmen Sie nicht die Eisenbahn?” ”So, wie wir reisen, kommen wir zur rech ten Zeit an, und da uns unter freiem Himmel die schönsten und tiefsten Empfindungen gegeben werden, schließt dies eine Reise mit der Eisenbahn aus.” Der Leutnant blickte ihm fasziniert in seine freudetragenden Augen und fragte sich derweil, ob und woher er ihn vielleicht kenne, denn irgend etwas kam ihm bekannt vor, das las ich in seinen Blicken. Er konnte es nicht finden, und als ihm die Zeit des Blickens zu lang wurde, sie noch vor seinen Solda ten erklären zu können, gab er sich einen Ruck. Er salutierte vor uns, den Zivilisten, und bot uns eine gute und glückliche Reise. Mein Freund reichte diesem Manne mit solch unverstocktem Herzen dafür die Hand, die er ihm auch tatsächlich freudig schüttelte, und ging fröhlich weiter. Wer hätte das von einem Nazi gedacht? Aber konnte dieser Mann ein Nazi sein? Oder war er nicht, wie er ja selbst erwähnt hatte, einer, auf den einfach nur die Wehrpflicht zugetroffen hatte? Schien er nicht eher einer derer zu sein, deren der Freund gesagt hatte, dass sie einander erkennen und einander nicht in den Krieg schicken, auch wenn sie selbst dorthin geschickt werden? Uns jedenfalls hatte er nicht in den Krieg geschickt, sondern eine gute Reise ge wünscht, obwohl er selbst offenbarlich hineingeschickt worden war. So wahrhaft wunderschön ist das Leben, sage ich Dir, lieber Bruder, dem ich all dies Wunderbare hier erzähle! Nach einer kurzen Weile kamen wir zu dem kleinen Bahnhofe, der gewiss zu Friedenszeiten verträumt und kaum beachtet war, nun jedoch von zahlreichen Wehrmachtssoldaten umlagert wurde, die für Ordnung zu sorgen hatten. Viele Kriegsgefangenentransporte gingen hier durch, Nachschubfahrten für die Front und nicht näher deklarierte geheime Transporte, obwohl diese Bahnlinie nur eine Nebenstrecke war; jede intakte Verbindung zwischen der Front und dem Heimatlande wurde eben gebraucht und verwendet. Zu’r Zeit wurde offenbar nichts Besonderes erwartet, und viele Soldaten lungerten einfach am Bahnhofe herum. Ich beschaute meditierend den Ort und seine Umgebung. Das schlichte Hauptgebäude war nicht sehr hoch und mochte noch aus der K.u.K.-Zeit stammen und gegen fünfzig Jahre alt sein. Daneben standen einige Neben gebäude, bei einem derer ein alter Ziehbrunnen zu erkennen war. Es gab nur fünf Gleise; die eingleisige Strecke hatte also nur auf dem Bahnhofsgebiete vier Nebengleise. Nur für das am Hauptgebäude gab es einen Bahnsteig. Zwischen den anderen war zwar genug Platz für Bahnsteige; allein es gab dort keine, aus welchem Grunde auch immer. Von fern aus dem Osten war nun der Rauch einer sich langsam nähernden, dick paffenden Dampflokomotive zu sehen. Die Soldaten am Bahnhofe bemerkten es offensichtlich so wohl, wie auch ich, aber es schien sie nicht im Ge ringsten aufzustören; sie waren solches offenbar gewohnt. Mein Freund sprach: ”Lasse uns dort zu dem Brunnen gehen und einige Eimer mit Wasser füllen.” Wir gingen ungehindert und sogar unbeachtet dorthin und begannen, nacheinander vier Eimer zu füllen. Als sie gefüllt waren, bat er mich zwei Eimer zu nehmen und ihm zu folgen, der er die anderen zweie trug. Wir stellten die Eimer in die Nähe des dritten Gleises und setzten uns auf einen niedrigen der drei Schwellenstapel, die da zu’m Teile schon lange standen, weil sie von allerlei Gewächs um- und überrankt waren. Ich ahnte mir Beklemmung, was nun in Kürze geschehen werde, schwieg aber besinnlich-unruhig, um mich innerlich auf das Kommende wenigstens vorzubereiten zu versuchen. Der dampfende Zug war indessen beachtlich näher gekommen und würde in wenigen Minuten die Station errei chen. Nun trat ein Feldwebel auf den Bahnsteig und rief: ”Achtung!” Sofort ging ein Ruck durch die Soldaten. Sie erhoben sich schlagartig und nahmen, wo sie gerade standen, Haltung an. Der Feldwebel vernahm dies mit strenger Genugtuung und rief: ”Gefangenen- und Materialtransport auf Gleis drei. Am Zugende sind zwei leere Waggons, die mit den dafür vorbereiteten Kisten beladen werden müssen. Uffz. Behren, zwölf Mann zu’m Laden!” ”Jawoll, Herr Feldwebel! Zwölf Mann zu’m Laden!” ”Die zehn Waggons am Zugkopf sind voller russischer Kriegsgefange ner. Die Türen werden zu’m Lüften für die Dauer des Aufenthaltes geöffnet. Vor jeden Waggon ein Mann mit Gewehr im Anschlag. Uffz. Schuldtmann, je zwei Mann zu’m Türöffnen und-schließen, also zwanzig, und zehn mit Gewehr im Anschlag!” ”Jawoll, Herr Feldwebel! Zwanzig Mann zu den Türen und zehn mit Gewehr im Anschlag!” Wir hörten die Unteroffiziere, kurz Uffz. genannt, Kommandos erteilen und also ihre Aufträge ausführen. So kamen schließlich Unteroffizier Schuldtmann und drei Männer in unsere Nähe, wo sie sich unweit des Gleises postierten, uns jedoch weiterhin nicht beachteten. Der Feldwebel trat in das Gebäude zurück. Nun fuhr schmauchend und mit quietschenden Bremsen der Zug ein und kam zu’m Stillstande. Unverzüglich wurden geheißgemäß die Türen geöffnet; am Zugende wurde fleißig geplackt und geladen. Bei uns, am Kopfe des Zuges aber, quoll ein widerwärtiger Gestank aus den Waggons heraus und starrte uns eine Menge kahler und verzweifelt blickender Menschenköpfe entgegen. Mein Freund blickte mich vollkommen ruhig, klar und liebevoll an und sprach: ”Glaube an die Liebe, Freund!” Ein Mann aus dem Waggon bat nun vage, mit zerbrochener Stimme: ”Woda, paschalsta! Paschalsta!” Kein Soldat jedoch rührte sich, dieser verzweifelten Bitte um Wasser nach zukommen; es war ja schließlich nicht befohlen worden! (!) Und in noch verlorenerem Tone wiederholte der Mann seine Bitte: ”Paschalsta! Wada!” Mein Freund wollte nun die beabsichtigte Tat ausführen, und das hatte ich mit gros er Bange kommen sehen, aber ich griff seinen Arm und hinderte ihn so, auf zu stehen. Er drehte sich um und fragte, sanft lächelnd: ”Warum greifst Du meinen Arm, Freund? Sollen die Durstigen verschmachten?” ”Nein! Aber wollen wir denn nicht auch leben? Wenn wir hier einschreiten, dann werden wir vielleicht erschossen!” ”Und steht nicht ge schrieben: ‘WER AN MICH GLAUBT, DER WIRD LEBEN, AUCH WENN ER STIRBT.’?! Und dies steht ebenfalls ge schrieben: ‘Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes Willen’?” Und er schob sanft, aber bestimmt, meine Hand ab, nahm einen Eimer und eine Schöpfkelle und ging zu dem ersten Waggon, aus dem der Mann gebeten hatte. Der Soldat mit Ge wehr im Anschlag sah dies verwundert und blickte deswegen fragend zu seinem nahe stehenden Unteroffizier. Die ser aber sah es ebenfalls und ranzte meinen Freund an: ”He Du! Was willst Du da? Bleib stehen!” Mein Freund blieb furchtlos stehen und wandte sich friedlich zu dem Manne um. Ihre Blicke trafen einander; der des gewohnheitsmäs sigen, unfruchtbaren Hasses und der der segnenden, bewusstseinsvollen Liebe. Der Unteroffizier wandte als erster den Blick ab. Ich sah, dass er dies musste. Schweigend war er bewogen, den Ort zu verlassen, und ging dann wie geschäftsmäßig an den anderen Waggons vorbei und warf dort merkwürdig interessierte Blicke hinein. Der Soldat mit dem Gewehr deutete dies als Zustimmung des Unteroffizieres zu dieser Wasserreichung und verhielt sich also still. Mein Freund stellte den Eimer in den Waggon und reichte die Schöpfkelle den ausgezehrten Männern aus Russland. Nie werde ich den selig lächelnden Blick des Dankes, der bewundernden dankbaren Liebe vergessen, mit dem der gebeten habende Mann meinen Freund anschaute. Dieser, darob dankbar, gebar nun auch ein seliges Lä cheln, das er ihm lächelnd wiederschenkte, und so, als habe sich ein Kreis geschlossen, kam Freude in allen Antlitzen der Eingesperrten auf, und die Kelle ging reihum. Der Funke griff auch auf mich über, und ich nahm plötzlich, wie ohne Besinnung, aber dennoch gänzlich klar und nun auch wieder freudigen Herzens, den nächsten Eimer mit einer Schöpfkelle und stellte ihn in den zweiten Waggon; die Bange war fort, einfach nur fort, so als sei sie nie da gewesen. Auch mir blickten dankbare Antlitze entgegen, und nahezu zärtlich sprachen Einige: ”Sspassiba!” Das Friedensreich war mit einem Male angebrochen! Sodann holte ich die beiden anderen Eimer und brachte sie zu’m dritten und vierten Waggon. Als die Soldaten, die die Türe des fünften Waggons sahen, mit welcher Wonne das Wasser in Empfang genommen wurde, blickten sie einander kurz an, verließen dann den Waggon und holten jeder zwei weitere Eimer aus einem der Bahnhofsnebengebäude und gingen zu’m Brunnen. Bald darauf kehrte der Eine wieder und reichte seine zwei Eimer an den fünften und sechsten Waggon, dann kam der Andere, und wollte zu’m siebten und achten. Mein Freund hatte derweil den ersten, schon geleerten Eimer wieder gefüllt und ging mit dem anderen Soldaten gemein sam in die Richtung des Zugendes, zu Waggon Nummer neun. Mit liebevollem Blicke segnete er diesen Soldaten, der offenen Herzens den Funken des Erbarmens hinein- und zugelassen hatte; der Soldat empfing diesen Blick und errötete ob dessen! Plötzlich stand der Feldwebel auf dem Bahnsteig. Er stutzte kurz, als er die Tränkung sah, und schrie dann zornig: ”Wer hat das befohlen?” Keiner antwortete. Die zwei Soldaten, die Eimer tragen geholfen hatten, ließen ab und ver zagten. Sogar die plackenden zwölf Soldaten, die mit alledem ja gewiss nichts zu tun hatten, hörten von ihrem Mü hen auf. Auch mir stockte der Atem, und die Zeit schien stehen zu bleiben. Kein Luftzug des warmen Windes war zu fühlen. Nur mein Freund blickte heiter und unbefangen zu dem Feldwebel, der nun schrie: ”Uffz. Schuldt mann!!!” Dieser hatte sich auf die andere Seite des Zuges verdrückt, so dass er vorschützen mochte, er habe nichts gesehen. Auf den Schrei hin bog er, wieder zu dienstlicher Vernunft gelangt, schnell um die Lokomotive herum und eilte zu seinem Vorgesetzten, dem er allerdings nichts zu sagen wusste. ”Mann, wer hat hier befohlen, den Iwans Wasser zu geben?!” ”Ich nicht, Herr Feldwebel!” ”Einer muss es aber gewesen sein!” ”Jawoll, Herr Feldwebel! Einer muss es gewesen sein!” In dieser Weise geschah das: geistarmer Gehorsam aus Angst vor Strafe! Wie viele später beklagte Kriegsverbrechen geschahen aus dieser Angst? Und wer kann überhaupt schuldig gesprochen werden, der aus Angst einen Fehler machte? Ist uns denn jemals von jemandem, der uns für unsere Fehler schuldig spricht, geholfen worden, die Angst allgemein so richtig zu verstehen zu lernen, dass wir sie überwinden könnten? Soeben kam der Leutnant mit seinen sechs Soldaten auf das Bahnhofsgelände und bog in bester Gestimmtheit um die Ecke des Hauptgebäudes. Er mu sterte den Zug, die nun stockende Beladung der zwei hinteren Waggons, die ansonsten bisher ordentlich abgelaufen war, und die Wassereimer bei den Gefangenen, ohne zunächst jedoch meinen Freund und mich zu erkennen. Da er dem Feldwebel solchen Großmut nicht zugetraut hatte, fragte er ihn: ”Haben Sie das befohlen, Herr Feldwebel?” ”Was befohlen, Herr Leutnant?” ”Die Versorgung der Gefangenen mit Wasser.” ”Nein, Herr Leutnant, aber ich woll te gerade den Schuldigen dieser Eigenmächtigkeit ermitteln, Herr Leutnant!” ”Den Schuldigen? Wie kann jemand schuldig sein, der durstigen Menschen Wasser reicht? Also hat sich ohne Ihren Befehl jemand erbarmt? Dies Erbar men hätten längst Sie befehlen sollen, Herr Feldwebel!” Dieser hatte eine solche Bemerkung nicht erwartet und wusste nun in Folge dessen darauf nichts zu erwidern. Der Offizier blickte über das Bahnhofsgelände. Nun gewahrte er mich und dann meinen Freund. Ein Lächeln er blühte auf seinem Antlitze, und er sprach zu dem Feldwebel: ”Es ist gut, Herr Feldwebel. Ich sehe nun die Quelle des Wassers.” Der Spieß salutierte und suchte im Stillen, die Sache zu verste hen. Auch Unteroffizier Schuldtmann salutierte und wurde dann vom Feldwebel hinter vorgehaltener Hand gefragt. ”Was ist hier eigentlich los, Uffz. Schuldtmann, he?” Dieser zuckte nur mit den Schultern und blickte genauso gespannt wie der Feldwebel zu dem Leutnant und den beiden Zivilisten, die gerade zusammenge kommen waren.” Sie also. Sie wagen es, einem militärischen Befehl zuwider zu han deln?” fragte er milde, aber so sehr interessiert, dass die Frage man chem als streng erklingen mochte. Mein Freund aber lächelte herz lich und sprach: ”Ist dies ein Wagnis?” Da lächelte auch der Leut nant: ”Hm, in diesem besonderen Falle allerdings nicht. Woher wuss ten Sie aber, dass ich zu’r rechten Zeit kommen würde, so dass dies kein Wagnis war?” ”Für die Liebe ist nichts ein Wagnis.” ”So sind Sie der Liebe vollkommen gewiss?” ”Wie könnte ich sonst Solches so leichtherzig tun?” Fasziniert schwieg der Leutnant. Mehr und mehr schien ihm aufzu gehen, was er VOM BEGINNE AN im Blicke meines Freundes gese hen und doch nicht erkannt hatte. Dann, so als wolle er die Festig- keit des bei meinem Freunde Gesehenen prüfen, fügte er an: ” Das IST dennoch merkwürdig! Der Feldwebel hätte Sie ja für Ihr Tun erschießen lassen können!” Da blickte ihn mein Freund so liebevoll an und sprach sanft: ”Er hätte können, wenn GOTT ihm erlaubt hätte, und was Gott erlaubt, das geschieht zu’r rech ten Zeit. Unser aller Sterben geschieht zu’r rechten Zeit. Der Feldwebel, hätte er uns erschießen lassen, hätte uns ge segnet, denn die Welt, der wir so hätten entweichen müssen, ist ohne Wahrheit. Hinter dem Ende der Welt aber wohnet die Wahrheit und schimmert oder strahlt auch an vielen Stellen der Welt sichtlich durch, so deutlich, wie hier, wo das Erbarmen ungehindert und liebevoll walten konnte. Auch Ihnen gebührt großer Dank hierfür.” Kopf schüttelnd staunend und wohlwollend lächelnd sprach der Leutnant: ”Sie wissen, dass in den Dienstvorschriften ein Erbarmen weder vorgesehen IST noch jemals wird?” ”Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den ei nen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Man kann nicht Gott dienen und zugleich dem Barras. Aber jeder kann wählen, ein liebevoller Mensch zu sein, und demnach zu handeln. Sie haben so gewählt und demgetreu gehandelt, Freund.” ”Und Sie sprechen mich nicht etwa schuldig dafür, dass ich überhaupt bei’m Barras bin?” ”Jeder ist an seinem Orte, da Gott ihn hinweist; wer könnte oder sollte dessen schuldig sein? Ich glaube an Vergebung, Gnade und DIE LIEBE, nicht an Schuld.” ”Trotz der Gefangenen?” ”Trotz der Gefangenen.” ”Aber wieso? Kann denn einer unschuldig sein, der sie nicht befreit?” ”Wer aber kann sie befreien, wenn nicht der Heilige Geist? Ihr Gefängnis ist nicht der Waggon, in dem sie körperlich eingepfercht sind, nicht die geschlossene Waggontür, und nicht die Flinte eines Wächters vor der gelegentlich geöffneten Türe, sondern das Urteilen der Menschen; auch ihr eigenes Urteilen ist darin eingewoben! Wer sie nun gewaltsam aus dem Zuge ließe, der brächte ihnen eine zwar praktische ”Freiheit”, jedoch ohne jede geistige Freiheit: es wäre denn eine ausrü stungslose Flucht, brutale Verfolgung und ein grausames Sterben, das ihnen zu Teil würde, ohne dass sie dabei ler nen könnten oder gelernt hätten, was die WAHRE FREIHEIT IST. Nicht, dass ich ihnen die ”praktische” Freiheit nicht gönnte, aber wenn sie ohne einen solch gewaltsamen Eingriff weiterfahren, wird zwar auch gewiss Mancher auf dem Wege sterben, doch all die Anderen, die auf ihm nicht sterben, werden - als so genannte Fremdarbeiter zu’m Teile aufrichtige Liebe seitens der vermeintlichen ”Feinde” in Deutschland erfahren. Das wird ihnen wahrlich mehr Freiheit bringen denn eine rein dingliche Türoffnung ohne geistige und sogar ohne amtliche Zustimmung. Und Sie, wieso fürchten Sie, schuldig zu sein nach diesem wunderbaren Bekenntnis Ihrer zu’r Unschuld? Amen, ich sage Ihnen, heute haben Sie mittels Ihres freien, übergesetzlichen, menschlichen, furchtlosen und barmherzigen Verhaltens den Gefangenen gezeigt, was wahre Freiheit IN DER FREIEN WAHRHEIT ist! So haben Sie sie mehr ge lehrt über die Freiheit, als wenn Sie sie gewaltsam aus den Waggons gelassen hätten.” Aufrichtig beglückt darob, ge bar der Leutnant nun ein wonniges Lächeln, das er WAHR und dankbar-freudig meinem Freunde schenkte; dann wandte er sich ab und gebot den Soldaten, mit der Wasserreichung fortzufahren. Die beiden Soldaten der Bewa chung des Waggons Nummer fünf waren die ersten, die diesen Liebesdienst wieder aufnahmen. Einige Andere folg ten zwanglos. Ein warmer Luftzug fuhr uns allen dabei streichelnd über’s Haupt, und Vogelgezwitscher war von da und dort zu vernehmen. Mein Freund sprach dann leise zu mir: ”Nun IST es geschehen. Lasse uns weiterwandern.” DAS ist als echtes Wunder geschehen! Er schaute nun segnend über das ganze Bahnhofsgelände und schritt am Zu ge entlang. Als wir an den Waggons vorbeikamen, wunken uns die Gefangenen zu; sie hatten begriffen, was hier geschehen war. Der zuerst Gebeten-Habende aus dem ersten Waggon sprach uns noch das WORT zu: ”Druschba!” Wir gebaren nun von Herzen dies liebevolle Wort ebenso und schenkten es ihm freudig wieder: ”Druschba, Freund schaft!” Dann verließen wir das Gelände und zogen aus dem Dorfe hinaus in Richtung Süden. Ich versuchte noch lange Zeit, den Gedanken der Zustimmung zu den Zusammenhängen zu verstehen, die Gewährung gänzlich anzu nehmen. ”Warum zerbrichst Du Dir den Kopf?” fragte er mich, ”Den Geboten DER LIEBE darf gänzlich zugestimmt werden, und nicht den Befürchtungen vor dem Hasse der Welt, denn Gott gibt kein Elend. So einfach ist das.” ”Und warum ließest Du dann den Leutnant bei’m Barras bleiben? Wie kann er dort weiterhin mitmachen, wenn er den Ge boten der Liebe gänzlich zustimmen sollte?” begehrte ich störrisch auf. Zwei, drei Krähen schrien plötzlich, und auf einer Wiese brüllte ein Ochse rebellisch. Mein Freund blickte mich liebevoll lächelnd an und sprach: ”Blicke nicht nach den Fehlern Deines Nächsten, sonst beginnst Du, an sie zu glauben. DEM, das unrecht erscheint, schenke keine Achtung! Wenn dieser Leutnant nicht Soldat wäre zu dieser Zeit, dann wäre unser heutiges Wunder so nicht mög lich gewesen. Er wird noch weitere Wunder tun, die er nur bei der Truppe tun kann, bis er eines Tages seine Uni form für immer ausziehen wird. Du aber lerne Deine Lektion, nicht die seine! Und nun gräme Dich nicht, denn Du bist ja ohne Schuld, Freund! Als Du einwilligtest, Wasser mit den darbenden Brüdern zu teilen, wo war da Deine Furcht geblieben? Als aber dann der Feldwebel schrie, war sie wieder da. Nun, wo hatte sie sich vor der Vergebung verborgen?” Danach ließ er mich wiederum schweigsam denken. Erst tat er so, als bedürfe die ganze Sache keines Kopfzerbrechens, und dann türmte er auf das zu Lernende noch etwas obenauf! Aber Solches hatte ich schon mehr fach von ihm mitbekommen, darum versuchte ich, zu’r Ruhe zu kommen, ohne die Gedanken dabei zu vergessen. Ich schaute nun den herrlichen wunderbaren blauen Himmel und ließ dem Auge freien Lauf, nicht zu’m Streunen, sondern zu’m Meditieren. So gewahrte ich im Wipfel eines prächtigen Baumes zwei Sperlinge, die widereinander stritten, unter der Herrlichkeit des EINZIGEN Himmels, die sie nicht sehen konnten, weil sie allein dem Streite Acht gaben. Nun verschwand die Sonne hinter einer Wolke. Da hatte ich es, und das Lächeln erblühte wieder auf meinem Antlitze. Die Sünder sind wie dieseVögel: sie schauen die Herrlichkeit des Himmels nicht. Ihre Sünde aber ist ihr kleines schmales Einzelinteresse. Als die Sonne wieder hervor kam, fragte mich der Freund: ”Nun hast Du es?” ”Ja.” Er schenkte mir einen liebevollen Blick, und ich gebar, darob dankbar, nun auch einen Solchen, den ich ihm aufrich tig lächelnd wiederschenkte. So ist das Leben: wunderschön! Das sage ich Dir, lieber Bruder, dem ich dies alles er zählte, um Zeugnis zu geben von dem, das vom Beginne an war und ist. Dies ist das Geben der Liebe. Dies Geben ist geistig. So nennen wir es das Wort, Logos, Sawar. Es ist zwischen uns und Gott, aber nicht als Grenze oder Trennen des, sondern als Verbinde und Einendes. Es ist das eine wahre Zwischen-Sein, das INTER-ESSE, DAS WAHRE BE DEUTUNG HAT, obdoch so viele Menschen unablässig eines anderen, flachen, eingebildeten, weltlichen, subjekti ven sprich: eigenweltlichen und also unwahren (Einzel-)Interesses faseln. Das eine wahre Interesse der Liebe aber ist, die Liebe auszudehnen, SIE weiterzugeben mit Freude, in Freude, durch Freude, und zu zeigen, dass sie voll kommen erhaben ist über jeder Schuld, jeder Möglichkeit des Angegriffen-Werdens oder gar des Überwunden Werdens durch den Irrtum, der ”das Böse” genannt wird von denen, die an das Gute in gegenteilsloser Reinheit nicht glauben. Mein Dich segnender Wunsch, lieber Bruder, ist: liebevoller Friede sei mit Dir! SEI dieser Botschaft gemäß! Schaue einzig die Schönheit der Schöpfung, und Du bist frei und GLÜCKLICH im Sinne der Frohen Botschaft! Amen. |
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