Jenseitshaftig


Nun war aus er gefahren, den Raum zufinden, darinnen oder daraußen die Weltmitte sei. Zu diesem Behufe hatte er sich manche Jahre lang von Stoff-, See-, Erd- und Gebirgskundlern belehren lassen, bis er endlich ver dachte, er habe der Kunde genug gewonnen. Nun war er auf einem Schiffe, das zu fernen Eilanden segelte. Dort nämlich, so hoffte er, werde ihm in sonderlich hinführendem Raumverhalte tiefere Eindenkung zu ler nen geboten; dort, da fernab verschrobenem Unsinne ein unentwegt am Orte des Ursprunges Weilendes gei stig zu begreifen sei.
Er stand am Buge und lange schaute er blendend weißes Gewölk, das am tiefblauen Himmel wie ein sonder bar riesiges Gebirge in großen Haufen mannigfach gedrungener Auswüchse undurchsichtig in einander stak und wunderbaren Übergang zu anderer Welt abgelegen hinter sich zu verbergen schien; wohlgemut roch er den lauen Salzduft, der ihm aus ungeahnten Fernen sinnlos günstig entgegenwehte. Dies erinnerte ihm den heiligen Inseltraum, in den hinein er oft versann, als er Herrn Defoes Buch ‘Robinson Crusoe’ las und derweil in sonnenbeschienenem Frühlingsgarten hinter dem Hause seiner Ältern mühelos auf weicher Matte lag und fernsinnig sorgenvergessen die Kunft des geträumten Eilandsortes inniglich wünschte. Und irgend war das geschaute Gewölk auch mit einem früheren Weilen in einem italienischen Eiscafe verbun- den: dort war er einst, als daraußen alles in hochmäßig lichtem Sommerglanze schwebte, und nun, auf dem Schiffe, dünkte das erinnerte Damalige ihm wie eine dortige Stunde des stillen Gebotes an ihn, hinüber zu kommen in selige Zeit, doch ließ er unerkennend die Gebotenheit fahren, unwissentlich am Rande der Welt mitte;heute aber wusste er nicht, wo und wann das geschehen war, und wieso nun solchermaßen unsinnig ihm dünkte, damals sei solches möglich gewesen.
Die bis zu’m Klüver aufspritzende Gischt eines am Buge zerschmetternden Wellenkammes traf des Fahrenden Haupt und bewog dessen Geist, gewahr zu nehmen Gewordenes und Werden hier und nicht länger zu beden- ken, wasdort gewesen war, das vordem er lang bedachte. Gewölbt schien die einsame Weite um den Segler mit ihren Enden zu einander hin, und an einem Flecken am Rande seines Gesichtsraumes sah der Fahrende grüne Hügel, zu derem Orte der Bugspriet hinragte, und er klomm die Wanten hinauf, um ferner sehen zu mögen. Allmählich näherten die vom Winde gefüllten Segel ihn und das Schiff dem Eilande, und so wuchsen die grünen Hügel zu dichtbewaldeten Felsgebilden, die zumeist bis in die See hinein standen; da und dort unterbrochen von weißen Sandniederungen, die stille Buchten umrandeten. In eine solche hinein ward der Segler gesteu das dort zu Wasser gelassene Beiboot brachte den Fahrenden zu’m Lande. An einem Winkel des langen Strandes begann jäh das schroffe Gestein eines Berges, der bis hoch in die Luft reichte und wie eine Bastei aus dem ringsum gemach anstei- genden Walde her ausstand; dieser Berg war ein ungemein großer Felskegel solcherart, wie sie in beachtlicher Menge im Regenwalde des nördlichen Brasiliens an der Grenze zu Venezuela und Surinam aus Erdbewogenheiten gestaltet wurden zu Zeiten, als dieser Ort namenlos war und den noch in immer erneut verwandelter Mannigfalt neue, irgend wieder sterbende Lebensarten zeitigte. Dies Gesicht erinnerte dem Fahrenden den Andentraum, den die Wähnkunst seines Geistes vor Jahren erwähnte, als er südameri kanischen Geklang mit den dort gepflogenen Tonfolgen und -abstandsarten oft hörte und derweil des dortigen heißen Wetters fröhlich gedachte. Die Anden als aus endlosen Wäldern des umliegenden Niederlandesemporstre-bende und schwindeligende Höhen, um deren Spitzen dünne Wölkchen vor einer Himmelsbläue schwebten, in die hinein vor Hunderten der Jahre die Inkas deren Blick sandten, um göttliche Sonne blinzellos zu schauen. Diese Erinnerung bewog ihn wiederum zu denken, als sei damals der Ort ihm nahe gewesen, den er nun suchte, um in ihn hineinzukommen, ohne ihn zu wissen; der Ort des Hineinkommens in etwas, das unsagbar war. Er wusste aber, dass der Ort nicht allein ein Flecken innerhalb bestimmter Dinge, die zu einander verhalten sind, sei, doch auch die Stunde in sich trug, in der dieser Ort zu diesem nämlichen Orte wurde; denn die Ausein andergewordenheit alles Stoffes, die als die Weite vernommen wird, ist nicht allein ein räumlicher Stoffverhalt, doch auch das Werden dessen, wie der Name ja sagt. Die nun geahnte Nähe des damaligen Ortes galt in des Fah renden Geist als Mahnung, munter zu suchen dies mindestens selt-, wenn nicht gar unfindsame Hinein oder Hin über.
Er stapfte auf warmem Sande zu dem Kegel, derweil Bäume im Winde wisperten und fremdes Getier sonderbar lautete und zirpte; als vor dem Felsenstoffe er stehend war, besann er dessen Gestalt und suchte Zugang in oder auf diesen ungenau dreihundert Klafter hohen Steinklumpen, der annähernd so breit und tief war. Der Reisende schritt am Rande des Kegels entlang und also um diesen hinum, ihn achtsam gewahrend, bis der Schreiter fünf zehn Fuß oberhalb seiner ein mannshohes Loch erblickte, darneben in einer furchenartigen Vertiefung ein schma ler Wasserfall aus höherem Teile des Felsens heraus kam. Er bestieg wagemutig diese Klamm und gelangte ohne Fehltritt glücklich bis zu dem Loche, dessen Inneres er nachdem prüfte. Jenes erkannte er als verwinkelten und mannigfach verzweigten Höhlenfortgang, durch den zu früheren Zeiten das nun außen fallende Wasser floss, wie die Geschliffenheit des wirren Gerölles am Boden ihm zeigte. Er beschloss, alle abzweigenden Schächte oder Ab gänge zu besichtigen, um, falls möglich, bis zu’m Gipfel des Berges zu kommen, denn ihm ahnte, hier werde er irgend fündig betreffs des von ihm Gesuchten.Hinter einer Biegung klomm er die Höhe hinan, aus der her Tages licht in den Schacht strahlte. Dort, da dies Licht einfiel, brauste der Wasserfall unmittelbar nebenher entlang, so dass der Klimmer verdachte, zu früheren Zeiten spliss hier ein Felsstück ab und gab neuen Weg dem Wasser; der erklommene Fortgang endete hier und zwang zu’r Umkehre.
In anderem, stetig in die Höhe führendem Gange durfte der Reisende, weil er nämlich fortzukommen wünschte, so oft die Richtung wechseln, dass ihm schwindelte und er nicht wusste, wo der Zenit der Sonne war; dennoch schimmerte auch in dieser Felshöhlung ein fahles Licht, das irgend in das Gestein einstrahlte. Nach einer Dauer des mit schwerer Mühe Kletterns ward es lichter und lichter, und plötzlich, nach letzter Biege, blendete den Su chenden gleißendes Sonnenlicht, das in eine enge Schlucht hineinfiel, deren Länge nicht zu sehen war, weil jene verschlungen und verwinkelt durch den Fels gebrochen war, doch deren Tiefe (im Verhältnisse zu’m Gipfel des Bergkegels) mindestens hundert Klafter maß. Riesige Stauden, Farne, Schachtelhalme, mannigfach verwobenes Schlinggewächs, zweifach mannsstarke hohe Bäume gediehen üppig auf dem offenbar fruchtbaren Boden der Schlucht und auf zahlreichen höher gelegenen mehr oder minder schmalen kurzen Felsvorsprüngen, die in ihrer (nicht derer) uralten Lebendheit auf zumeist kahlem Grunde dem Beseher dünkten wie vereinzelte wunderlich ungestorbene Gedächtnistropfen im Spalte eines wüsten verknöcherten Hirnes aus vor Jahrtausenden verendetem Geschöpfe.
In gemeindeloser Ewigkeit war des Fahrenden Geist versunken in fromme Beschau und selig ernsten Bedacht des vernehmenswerten mannigfaltigen Gegebenen einer Welt, die allein seine war, doch nicht als Gegenstand dummer Habgier, doch als Wirklichkeit, darinnen er als der allein Dabeiseiende war. Derweil stand im Zenite die Sonne und verharrte da, der steten Bewogenheit ihrer und der Erde zu’m Trotze; die Stunde stand, und der Ort war geworden: das wusste der Fahrende nun, nachdem er seiner abgeschiedenen Versonnenheit freudiglich inne ward. Und er wuss te zudem, nicht diesem geklobenen Steinklumpen, diesem fernsten entlegenen schönen Flecken der Erde, hing das Gefundene ab, auch wenn dieses vernommenen Teiles des auseinander gewordenen Stoffverhaltes der Geist zufäl lig (und doch zusammenhängig) bedurfte, um zu’m Nämlichen zu gelangen: zu’r Weltmitte. Alle Verschachtelung, Verwinkelung, Krümmung und Biegung des Gebäude und Wolken und Felsen führten den Fahrenden nicht zu’m Orte, doch zu’m Erkennen der Undienlichkeit dieses Führens. Das wusste er nun: allein wer die Hürden des Raumes und der leeren Vernehmens folge überwinde, die als Zeit gedeutet wird, der komme zu’m Orte und zu’r Stunde.
Denkend erkannte er die Geschlossenheit des Stoffverhaltes, in dessen Weite er fuhr und suchte: wer darinnen war, der fand nicht hinaus, und wer daraußen, der nicht hinein. wie aber geschah der Übergang, den er doch suchte? Jene Denkung, die zwar einleuchtend, doch untrefflich war, wies den Fehl des Jenigen, der „darinnen“ war: dieser dachte die weite als Raum, der begrenzt, so dass auf dessen jener Seite eine andere weite wäre, die wiederum als Raum gedacht wurde; in Wirklichkeit aber war jene Seite „dort“ so wohl wie „hier“, denn Raum als Gedächt zu’r Bedenkung und Ermessung der Weite taugt nicht, Jenes zu erkennen.
Jenseits, daran die Weltmitte zu Tausenden hängt, ist undarinnen-undaraußen-undarzwischen-da. Nachdem er dies erkannte und aus seiner Besinnung zurückkehrte, stieg er in die Felsengänge hinein, kam aus den Anden hinaus und betrat auf Robinsons Eiland das italienische Eiscafe.